Rüsselsheim. Innenstadt. Das historische Opel-Altwerk heißt jetzt Motorworld Manufaktur Rüsselsheim. Oldtimer, Handwerker, Einzelhändler, Filmproduzenten, Bildungsträger und viele andere Unternehmen haben sich hier angesiedelt. Das Areal verströmt den Charme alter Industrieherrlichkeit, mehr Filmkulisse mit Retro-Chic denn urbanes Dienstleistungszentrum. Ein Hightech-Chemielabor vermutet man hier jedenfalls nicht.
Und doch: Schräg gegenüber einer Autowerkstatt namens Benzinrausch liegt ein wenig versteckt das Startup Sulfotools: 370 Quadratmeter, 8 Räume, davon zwei Labore, Büros, Besprechungsraum. „Ich finde es einfach toll hier.“ Christina Uth strahlt. Sie führt gemeinsam mit Sascha Knauer die Geschäfte der Sulfotools GmbH. Die beiden promovierten Chemiker arbeiten daran, synthetische Peptidmoleküle – Bausteine für Medizinprodukte und Kosmetika – mit einem von ihnen entwickelten Verfahren herzustellen. „Mit dieser neuen Technologie können die bisher verwendeten, giftigen organischen Lösungsmittel bei der Herstellung der Peptide durch Wasser ersetzt werden. Dies ist kostengünstiger und umweltschonender“, erklärt Sascha Knauer. Mit dieser Idee und einer großen Portion unternehmerischem Mut gründeten Knauer und Uth im März 2016 ihr Startup Sulfotools. Anfang 2021 fanden sie fast zeitgleich sowohl einen Investor als auch die Fabriketage in der Rüsselsheimer MotorWorld. „Läuft“, konstatiert Christina Uth zufrieden. Der Weg dahin aber war voller Hürden.
Innovation durch Forschung
Begonnen hat alles 2014 an der TU Darmstadt. Sascha Knauer forschte für seine Doktorarbeit bei Professor Harald Kolmar vom Fachbereich Biochemie im dortigen Chemielabor. Dabei machte er bei einem Experiment eine Zufallsentdeckung. „Es war ein Synthese-Unfall“, erzählt Knauer trocken. Eigentlich suchte er nach einem Baustein für die Peptidsynthese. Er fand ein Nebenprodukt, mit dem er nicht gerechnet hatte. „Mir war sofort klar: Das ist etwas ganz Besonderes“, erinnert sich der Chemiker.
Wasser ist die Lösung
Synthetische Peptide werden hauptsächlich als Wirkstoffe in Kosmetik, Therapeutika und Nahrungsergänzungsmitteln eingesetzt. Hergestellt werden die Peptide allerdings mithilfe giftiger organischer Lösungsmittel. Durch den „Syntheseunfall“ fand Knauer eine Möglichkeit, organische Lösungsmittel komplett durch Wasser zu ersetzen. Gemeinsam mit seiner Kollegin und Mitdoktorandin Christina Uth entwickelt er die „Clean Peptide Technology (CPT)“: wasserlösliche Schutzgruppen machen organische Lösungsmittel dabei überflüssig. Die Innovation überzeugt: das Verfahren hat weltweit großes Marktpotenzial. Pharma- und Kosmetikindustrie verwenden Peptide im großen Stil. Allein 2019 machten Peptide einen Umsatz von 50 Milliarden US-Dollar aus. (Derzeit gibt es ca. 80 zugelassene Peptidmedikamente weltweit, 150 Peptide befinden sich in klinischer Entwicklung, zwischen 400 bis 600 in präklinischen Studien.) Die TU Darmstadt meldet das Verfahren zum Patent an. Sascha Knauer und Christina Uth wagen den Schritt in die Selbständigkeit. Sulfotools geht an den Start.
Abenteuer Start-up-Gründung
Die beiden Neugründer arbeiten zunächst weiter im Chemie-Labor der Universität. Für mehrere europäische Pharma- und Kosmetik-Unternehmen übernehmen sie Auftragsforschung, erstellen Machbarkeitsstudien. Erste Interessenten melden sich. Knauer und Uth bilden sich in Sachen Betriebswirtschaft weiter. Er kümmert sich um den Aufbau von Vertriebsstrukturen, sie hat ein Händchen für geschicktes Marketing und PR. „Es ist leichter, sich als Chemiker unternehmerische Qualitäten anzueignen als umgekehrt“, grinst Knauer. Und trotzdem hätten beide sich gewünscht, schon während des Studiums praktisches Management gelehrt bekommen zu haben.
Mit Sulfotools werben sie Förderungen ein, das EXIST-Programm der Bundesregierung etwa oder den Merck-Accelerator. Sie gewinnen Ideen- und Gründerwettbewerbe, machen sich auf die Suche nach Investoren – und beißen auf Granit. Jahrelang. „Ich habe mehr als 70 Investoren in ganz Europa angeschrieben“, erzählt Uth, „aber eine Anschubfinanzierung möchte niemand geben. Erst wenn ein Unternehmen bereits läuft, steigen Investoren ein.“ Das Problem: Für die Gründung eines Chemie-Unternehmens braucht es mehr als ein Büro mit Computern. Labore und Ausstattung sind immens teuer, Sicherheitsbestimmungen müssen erfüllt werden – Brand- und Arbeitsschutz selbstredend. Startups in klassischer Chemie sind deshalb selten. „Als wir anfingen, gab es in ganz Deutschland nur acht Neugründungen“, weiß Knauer. Aufgeben aber ist keine Option.
Coaching und Mentoring
Unterstützung holen sie die beiden Jungunternehmer bei Deutschlands größtem Expertennetzwerk „Science4Life“ in Frankfurt. Knüpfen Kontakte. Bauen ein Netzwerk auf. Lernen, aus Ideen Konzepte und Businesspläne zu entwickeln. Und kundenorientiert zu denken: „Man muss bereit sein, das Produkt in Kundenrichtung weiterzuentwickeln, sonst funktioniert das nicht“, davon ist Christina Uth überzeugt. Sie präsentieren Sulfotools auf Messen, gehen auf Roadshow, fahren nach Berlin zum Bundeswirtschaftsministerium. Eine Ochsentour mit bitterem Beigeschmack. „Deutschland ist kein gutes Pflaster für Deeptech-Startups. Es gibt nur wenig Unterstützung für Neugründungen.“ China beispielsweise locke mit milliardenschweren Investitionen und anderen persönlichen Annehmlichkeiten.
Durchhaltevermögen und Standhaftigkeit
Auch Sulfotools erhielt ein reizvolles Angebot aus China. Knauer und Uth knickten fast ein. „Wir müssen ja auch von etwas leben.“ Doch nach China auszuwandern ist eine große Entscheidung, vor allem für heimatverbundene Darmstädter. „In einem solchen System zu leben, muss man schon wollen und auch bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen“, sagt Uth. Die Erleichterung, dass es so weit nicht kommen musste, merkt man den Gründungschefs an.
Buchstäblich im letzten Moment stieg der tschechische Investor i&i Prague bei Sulfotools ein. Die Firma bezieht nach sechs langen Jahren ein eigenes Labor. Und auch die Politik spielt ihnen jetzt unerwartet in die Karten: Nach der neuesten europäischen Chemikalienverordnung REACH dürfen bestimmte organische Lösungsmittel für die Herstellung von Peptiden ab 2023 nur noch eigeschränkt verwendet werden. Das eröffnet Sulfotools neue Möglichkeiten. Ab Herbst 2022 ist es so weit: In 5-25g Dosen liefern Sascha Knauer und Christina Uth erstmals ihre Aminosäurebausteine an Kunden aus. Schön abgefüllt in ihrer Fabriketage in der Rüsselsheimer MotorWorld.
Autorin/Fotos: Heike Jüngst